Die Untersuchungen zu den tödlichen Schüssen vom vergangenen Sommer sind abgeschlossen – Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt haben jetzt umfangreiche Ergebnisse bekanntgegeben
(ty) Die Ermittlungen zum Münchner Amoklauf am im vergangenen Sommer, der zehn Menschenleben gekostet hat, sind abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft München I und das Landeskriminalamt haben jetzt ihren Abschlussbericht vorgestellt. Am 22. Juli erschoss der 18-jährige David S. in und vor einem Schnellrestaurant sowie im Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München-Moosach neun Menschen, fügte weiteren fünf Personen Schussverletzungen zu und erschoss sich anschließend selbst.
Die Staatsanwaltschaft München I und das Landeskriminalamt übernahmen die Ermittlungen, um die Tat aufzuklären, mögliche Mitwisser oder Mittäter zu identifizieren, die Herkunft der Waffe zu ermitteln und das Motiv für diesen Amoklauf festzustellen. Der durch die eigens eingerichtete Sonderkommission erarbeitete Abschlussbericht umfasst mehr als 170 Seiten, sein Inhalt wurde den Angehörigen der Todesopfer bereits vorgestellt. Die Feststellungen beruhen den Angaben zufolge unter anderem auf der Auswertung von mehr als 1000 Videodateien sowie mehr als 2000 Vernehmungen und Befragungen von Zeugen.
Von zentraler Bedeutung für die Ermittlungen waren die Motivation des Täters sowie die Frage, ob andere Personen an der Tat oder deren Vorbereitung beteiligt waren. Welche Motive David S. zu der Tat bewegten und inwieweit die Tat auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen war, lasse sich nach seinem Tod nicht mehr mit letzter Sicherheit feststellen. Es bestehen jedoch den Erkenntnissen zufolge gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass mehrere Umstände von maßgeblicher Bedeutung waren.
„David S. war unter Gleichaltrigen weitgehend isoliert“, heißt es. Hierzu hätten vermutlich psychische Auffälligkeiten beigetragen, „aufgrund derer es ihm schwer fiel, sich zu integrieren“. Über Jahre hinweg sei er von Mitschülern „gemobbt“ worden, dabei sei es auch zu körperlichen Misshandlungen bekommen. „David S. entwickelte ersichtlich einen Hass auf Personen, die hinsichtlich Alter, Aussehen, Herkunft und Lebensstil den ihn mobbenden Jugendlichen ähnlich waren; dies waren vor allem Angehörige südosteuropäischer Bevölkerungsgruppen. Diese machte er für seinen von ihm empfundenen schulischen Misserfolg und das Mobbing verantwortlich.“
Fasziniert von Breivik
David S. habe sich „ein irrationales Weltbild“ geschaffen. „Darin befasste er sich beispielsweise mit der Vorstellung, dass die von ihm gehassten Personen mit einem Virus infiziert und deshalb gegebenenfalls zu vernichten seien. Aufgrund psychischer Störungen befand er sich wiederholt in psychiatrischer Behandlung. In seiner Freizeit habe er exzessiv am Computer gespielt, insbesondere so genannte Ego-Shooter-Spiele. „Er entwickelte Rache-Phantasien und beschäftigte sich intensiv mit dem Thema Amok. Insbesondere war er fasziniert von den Anschlägen, die Anders Breivik 2011 in Norwegen verübt hatte.“ Über einen längeren Zeitraum hinweg plante er den Erkenntnissen zufolge den von ihm dann verübten Amoklauf. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass er bei dem Amoklauf die einzelnen Opfer gezielt ausgewählt habe. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass die Tat politisch motiviert war.
Tat allein geplant und durchgeführt
David S. habe die Tat allein geplant und allein durchgeführt. Die sehr eingehenden Ermittlungen hätten keine Erkenntnisse ergeben, dass Dritte in die Tatpläne eingeweiht oder gar an der Tatausführung beteiligt gewesen wären. Auch im Ermittlungsverfahren gegen einen 16-jährigen Bekannten des Täters, Samer R., mit dem sich David S. am Tattag gegen 16 Uhr im Bereich des Tatorts getroffen hatte, hätten sich keine Belege dafür ergeben, dass dieser über die anstehende Tat informiert war. „Es liegen ferner keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Familienmitglieder, behandelnde Ärzte, Lehrer oder sonstige Personen aus dem Umfeld von David S. die Tat vorhersehen konnten.“
Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft München I ist jedoch der Waffenhändler, der David S. die Tatwaffe und Munition verkaufte, für den Tod der Menschen strafrechtlich mitverantwortlich. Daher wurde Mitte Februar dieses Jahres gegen ihn Anklage erhoben. Neben Verstößen gegen das Waffenrecht wird dem Angeschuldigten die fahrlässige Tötung von neun Menschen zur Last gelegt. Ihm droht im Falle einer Verurteilung eine mehrjährige Freiheitsstrafe.
Nach den rechtsmedizinischen Feststellungen sind die Opfer sofort gestorben beziehungsweise haben unmittelbar das Bewusstsein verloren. „Alle Todesopfer hatten aufgrund ihrer massiven Verletzungen keine Überlebenschance“, heißt es weiter. Dem Großeinsatz von Polizei und Rettungskräften sowie dem Engagement von Bürgern, die Verletzten sofort Hilfe leisteten, sei es zu verdanken, dass es nicht zu weiteren Todesopfern gekommen sei.
Chronologie des Amoklaufs
Die Ermittlungen der Sonderkommission ergaben, dass David S. am 21. und 22. Juli vergangenen Jahres über einen von ihm extra eingerichteten Facebook-Account mit einem Mädchennamen insgesamt vier Einladungen postete, am Tattag um 16 Uhr zu dem Schnellrestaurant in die Hanauer Straße zu kommen. Diesen Aufforderungen kam jedoch offenbar keiner der Angeschriebenen nach. Den Erkenntnissen der Ermittler zufolge stellt sich die weitere Chronologie wie folgt dar.
David S. selbst verließ am 22. Juli kurz vor 16 Uhr die elterliche Wohnung und fuhr mit seinem Fahrrad zu diesem Schnellrestaurant. Dort traf er seinen 16-jährigen Freund Samer R., mit dem er sich zuvor dort verabredet hatte. Die beiden trennten sich kurz nach 17 Uhr wieder am dortigen U-Bahnabgang.
Ab 17.08 Uhr hielt sich David S. im Schnellrestaurant auf. Er verließ es bis zur Tatausführung lediglich einmal kurz für zirka fünf Minuten. Um 17.50 Uhr ging er in die Toilette im ersten Obergeschoss, wo er aus seinem Rucksack die Tatwaffe holte.
Um 17.51 Uhr verließ er die Toilette und ging direkt zu einer Sitznische, in der eine Gruppe Jugendlicher saß. Hier schoss er unvermittelt direkt auf sechs Jugendliche und tötete zwei 15-Jährige, einen 14-Jährigen sowie zwei 14-jährige Mädchen. Ein 13-jähriges Kind erlitt während des Angriffs mehrere Schussverletzungen, konnte aber, nachdem der Täter den Tatort unmittelbar zuvor verlassen hatte, über eine Nottreppe fliehen und überlebte mit lebensgefährlichen Verletzungen.Insgesamt wurden in diesem Bereich 18 Patronenhülsen sichergestellt, die aus der Tatwaffe stammten.
Nur eine Minute danach verließ David S. das Schnellrestaurant wieder über den Haupteingang. Er drehte sich nach rechts und begann in Richtung des dortigen Elektromarktes zu schießen. Mehrere Menschen flüchteten panikartig vor diesen Schüssen. Der 18-Jährige schoss daraufhin gezielt in Richtung dieser Fliehenden und auf zwei Fahrzeuge, die im Einfahrtsbereich standen. Unmittelbar vor der Einfahrt zur dortigen Tiefgarage traf ein Schuss einen 17-Jährigen tödlich und ein weiterer Schuss einen 27-Jährigen, der schwer verletzt wurde.
Wenige Meter entfernt wurde eine 45-Jährige tödlich getroffen und ein 60-Jähriger durch einen Beinschuss schwer verletzt. Eine 44-Jährige, die mit ihren drei Kindern unterwegs war, erlitt Schussverletzungen an beiden Unterschenkeln, konnte aber mit den unverletzten Kindern in den Elektromarkt fliehen. In der Nähe des U-Bahnabgangs wurde ein 19-Jähriger tödlich getroffen. Insgesamt konnte die Spurensicherung in dem Bereich zwischen den Schnellrestaurant und dem Elektromarkt 16 Patronenhülsen sichern.
Streitgespräch mit Anwohner
David S. überquerte nun die Hanauer Straße und ging langsam über den Haupteingang in das Einkaufszentrum. Dort erschoss er nahe der Rolltreppen einen 20-Jährigen. Daraufhin benutzte er einen Durchgang und verließ das Einkaufszentrum über eine überdachte Brücke ins angrenzende Parkhaus. Auf dieser Brücke gab er Schüsse in Richtung des Parkdecks und einer Passantin ab, verletzte dabei aber niemanden. Dann durchquerte er die Parkebene, gab 13 Schüsse auf zwei geparkte unbesetzte Fahrzeuge ab und ging um 17.59 Uhr über die Auffahrtsrampe auf das oberste Parkdeck.
Dort führte er ein Streitgespräch mit einem Anwohner, der sich auf seinem Balkon eines Hochhauses in der Riesstraße aufhielt. Während dieses Gesprächs gab David S. zwei Schüsse in dessen Richtung ab. Dabei wurde ein anderer 47-jähriger Anwohner, der sich ebenfalls auf seinem Balkon befand, durch Teile eines abprallenden Geschoßes am Rücken verletzt. Anschließend schoss David S. noch dreimal in Richtung des Einkaufszentrums und eines Mitarbeiters, ohne dabei Menschen zu verletzen.
Vor den Augen der Polizisten erschoss er sich
Um 18.04 Uhr erkannten Polizeibeamte von einem Außenbalkon des Einkaufszentrums aus den Amokläufer und ein Beamter schoss einmal aus einer Maschinenpistole auf David S., verfehlte ihn jedoch. Dieser flüchtete nun über eine Nottreppe vom Parkdeck und verlor dabei seine beiden mitgeführten Mobiltelefone. Der 18-jährige lief über die Riesstraße und versteckte sich vermutlich in einem Gebüsch bei der dortigen Grünanlage. Kurz darauf verließ er wohl sein Versteck, um zu dem Hintereingang eines Hauses in der Henckystraße zu laufen. Da dieser aber offenbar verschlossen war, lief David S. um das Gebäude herum, um es über den Vordereingang zu betreten.
Der Amokläufer hielt sich nun über längere Zeit in dem Treppenhaus auf, wo er auch Kontakt zu Bewohnern hatte. Vermutlich über die Tiefgarage gelangte er zu einem Fahrrad-Abstellraum, in dem er sich über einen längeren Zeitraum versteckte. Er verließ diesen erst wieder durch eine Stahltür, die zu einer Treppe nach außen führte, um 20.26 Uhr. Er ging über diese Treppe nach oben und traf hier auf Polizisten, vor deren Augen er sich selbst erschoss. Dieses Geschehen konnte auch von mehreren Anwohnern, die sich auf Balkonen aufhielten, beobachtet werden.
Wie die Spurensicherung und die Ermittlungen ergaben, gab David S. insgesamt mindestens 59 Schuss ab. Ein Schuss wurde durch eine Polizeiwaffe abgegeben. Im Stadtgebiet München meldeten sich 32 weitere Personen, die sich in mittelbarem oder unmittelbarem Zusammenhang mit dem Amoklauf so verletzt hatten, dass sie in Krankenhäusern behandelt worden waren.
Nach den bisherigen Ermittlungen erwarb der 18-Jährige die Tatwaffe über das Internet (Darknet) zusammen mit Munition von einem anderweitig verfolgten 31-jährigen Deutschen für zirka 4000 Euro. Die Übergabe fand am 20. Mai vergangenen Jahres in Marburg statt. Finanzermittlungen ergaben, dass sich David S. das Geld hierfür längere Zeit ersparte.
Schießübungen im Keller
Mit dieser Waffe führte David S. den Ermittlungen zufolge im Keller seines Wohnhauses an mehreren Tagen Schießübungen durch. Dabei gab er mindestens 107 Schüsse auf Zeitungsstapel ab und filmte sich dabei. Zum Zwecke der Feststellung, ob Anwohner diese Schussabgaben gehört haben könnten, führten Waffengutachter am 22. August vergangenen Jahres eine so genannte Schallrekonstruktion durch. „Hierbei wurde festgestellt, dass diese Schüsse als solche nicht eindeutig zu identifizieren gewesen wären. Dies wird auch durch die Vernehmungen und Befragungen der Anwohner bestätigt.“
Der 18-Jährige kaufte danach am 18. Juli vergangenen Jahres erneut für 350 Euro weitere Patronen vom gleichen Händler im Darknet, die Übergabe fand wieder in Marburg statt. Insgesamt wurden an den Tatorten und bei David S. 567 Patronen und Hülsen des Kalibers 9 mm x 19 gefunden und sichergestellt. Die gesamte Munition stamme vom selben Hersteller aus einer Produktion.
Erfundener Chat mit nicht existierender Person
Ein besonderes Augenmerk richtete die Sonderkommission auf einen Chatverlauf mit einer Person namens „Bastian“. Hier wurden auf dem PC von David S. Dokumente festgestellt, die auf eine Verbindung zwischen ihm und „Bastian“ schließen ließen, in der die Münchner Tat angekündigt und weitere Orte als mögliche Tatorte genannt waren. Insbesondere durch forensische Gutachten stehe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass dieser Chat nie stattgefunden hat und dass „Bastian“ keine existierende Person ist. David S. habe diese Daten offenbar alleine erstellt.
Die Familie des Amokläufers befindet sich in einem Opferschutzprogramm, da ihr gegenüber zahlreiche Drohungen ausgesprochen wurden. Die Familien der Opfer wurden im Nachgang der Tat durch Beamte des Landeskriminalamts und Mitglieder von Betreuungsorganisationen betreut. Diese Betreuungen dauern teilweise immer noch an. Die Ermittlungen zu dem Amoklauf sind jetzt abgeschlossen, die Sonderkommission wurde aufgelöst.