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Der Tag der Deutschen Einheit lehrt, dass auch in der Weltpolitik Wunder möglich sind 

Von Veronika Hartmann

Ziemlich geknickt sitzt meine Nachbarin Shehriban vor ihrem Haus. Ihre Mundwinkel hängen tief nach unten, so kenne ich die lebenslustige junge Frau mit der lachenden Stimme gar nicht. Also setze ich mich zu ihr auf die Stufen und frage, was denn los sei. Sie hat den Feiertagsblues, stellt sich heraus. Weltweit feierten die Muslime nämlich vergangene Woche das Opferfest. Es dauert drei Tage und geht auf die Geschichte von Abraham und seinem Sohn Isaak zurück und ist ein einendes Element für Christen, Juden und Muslime. Dennoch warnt mich meine Nachbarin: „Bleib an den Tagen zuhause und lass die Fenster zu“, sagt  Shehriban, das Kinn auf die Hand, die Hand auf die Knie gestützt und fügt hinzu: „Alles wird nach Blut riechen.“

Aber nicht vor ihrer Tür: dieses Jahr hat es einfach nicht gereicht. Sie und ihre Familie können sich heuer kein Opfertier leisten. „Glaube mir, das Tier freut sich“, versuche ich sie zu trösten und füge hinzu, dass ihr Gott, weil er ja ein gerechter Gott ist, ihr nicht zürnen, sondern sich an ihrem liebevollen und hilfsbereiten Wesen freuen wird. Ein bisschen tröstet sie das schon, auch wenn sie natürlich misstrauisch bleibt. Zurecht: Was verstehe ich schon von Allah und dem Islam. Insgeheim bin ich froh, dass sie nicht direkt unter meinem Schlafzimmerfenster einem Schaf die Kehle durchschneiden werden. Für sie tut es mir jedoch leid. Die gesamten Feiertage über möchte ihr lautes Lachen nicht die Straße beschallen, ihre Stimmung bleibt gedrückt. „Früher, da waren die Feiertage irgendwie viel schöner“, findet sie. Irgendwo hört man eine verzweifelte Kuh muhen, wahrscheinlich das letzte Mal in ihrem Leben.

Seufzend gehe ich den Berg rauf, hin zum Taksim-Platz und der Einkaufsstraße Istiklal. Auch hier merkt man nicht viel davon, dass in der Türkei offiziell 99 Prozent Muslime leben und einen der höchsten religiösen Feiertage zelebrieren. Aus den Läden wummert die Musik, die Kaffeehäuser sind so voll, dass man kaum einen Platz bekommt. Die Kleiderläden locken mit Sonderangeboten anlässlich des Opferfests. Hier wurden die Feiertage offensichtlich schon vor langer Zeit abgeschafft.

Vor vielen Jahren habe ich mich mit einem Religionswissenschaftler unterhalten, der davon schwärmte, dass Christentum, Islam und Judentum sich in der Person  Abrahams wieder vereinen könnten. Dass er als Leitfigur dazu dienen könnte, die Klippen zwischen den drei großen Religionen zu überwinden. Eine sehr schöne Theorie. Sie kann zum Nachdenken anregen.

Heute ist Deutschland an der Reihe mit Feiertag. Es ist der Tag der Deutschen Einheit, einer meiner liebsten muss ich gestehen. Denn anders als Weihnachten oder Ostern erinnert er an ein Ereignis, das ich selber erlebt habe. Großgeworden in direkter Nähe der gruseligen Todesstreifen der DDR war es unfassbar für mich, als die Mauer fiel und mit ihr Stück für Stück der Eiserne Vorhang. Unsere Klassenfahrt ging nach Moskau. Auch aus diesem Feiertag kann man eine Menge lernen. Die Wiedervereinigung mögen die einen als geglückt bezeichnen, die anderen wiederum nicht. Manche wünschen sich gleich die Mauer zurück. Auch der Eiserne Vorhang scheint sich als hartnäckiger zu erweisen, als im ersten Freudentaumel erhofft.

Aber, das muss ich meinem Lieblingsfeiertag zugute halten, er lehrt mich jedes Jahr wieder, dass auch in der Weltpolitik Wunder möglich sind und daran hätten wir nun wirklich wieder mal Bedarf.

Und noch einen Vorteil hat der Tag der Deutschen Einheit: Er hat wenig Potential zu enttäuschen und Wehmut an ein Früher zu wecken, an dem alles besser war. 

***

Veronika Hartmann ist freie Journalistin und Übersetzerin. Nach ihrem Abitur am Christoph-Scheiner-Gymnasium in Ingolstadt zog es sie in die große, weite Welt: Über München und Bremen führte es die gebürtige Göttingerin an den Bosporus. Heute lebt sie in Istanbul und Ingolstadt, frei nach dem Motto: „Auf einem Bein kann man nicht stehen.“


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