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Leserbrief von Carsten Kühnel über "Fridays For Future" und den Umgang damit, über friedliches Aufbegehren und die Frage nach dem Mut. 

"Ich freue mich außerordentlich, dass das Direktorat des Pfaffenhofener Schyren-Gymnasiums für diese Woche von seiner strikten Haltung zur Schulbesuchspflicht abweicht und den Schülern damit die Möglichkeit gibt, an den weltweiten Streiks und Demonstrationen für einen deutlicheren Klimaschutz auch während der Unterrichtszeit am Freitagvormittag teilnehmen zu können.

Wie die Eltern in einem Rundschreiben erfahren, ändert sich jedoch an der grundsätzlichen Auffassung zur Schulpflicht nichts. Das kann und will auch niemand von unseren Rektoren und Verantwortlichen verlangen. Dennoch möchte ich hier darlegen, weshalb ich die freitäglichen Klimastreiks inklusive des provozierenden Schule-Schwänzens für existentiell wichtig für eine lebenswerte Zukunft halte und es befremdlich finde, dass daran teilnehmende Schüler in der ersten Hälfte diesen Jahres am Schyren-Gymnasium sofort mit der unkreativen Disziplinierungs-Maßnahme eines Verweises bedacht wurden.

Unter diesen Schülern war auch zwei Mal eine unserer beiden Töchter, worauf ich sehr stolz bin. Der Verweis soll, soweit ich weiß, als letztes Mittel zur Disziplinierung von unverbesserlichen Schülern verwendet werden. Meine Tochter ist jedoch das Gegenteil einer unverbesserlichen Schülerin. Gewissenhaft und fleißig erledigt sie die ihr auferlegten Pflichten, sowohl zuhause als auch in der Schule. Sie ist deshalb auch bisher noch nie mit der Schulordnung in Konflikt geraten.

Meine Tochter ist auch ganz gewiss keine Rebellin. So wie ich seinerzeit auch kein Rebell war. Feige und angepasst war ich als Schüler. Und auch meine Tochter macht sich bereits Sorgen, ein für alle Mal gebrandmarkt zu sein, worin ich ihr deutlich widersprach, da Lehrer und Direktorat zweifelsohne differenzieren zwischen der Person als solcher und dem Tatvorwurf, in diesem Fall des provozierenden Fernbleibens vom Unterricht aus zukunfts-politischen Gründen (wie ich es formulieren würde). Zumal mir der Direktor, Herr Boshof im Gespräch sagte, dass er die Beweggründe und das Rückgrat dieser jungen Menschen selber bewundernswert findet. Und deshalb sollte meine Tochter stolz sein!

Als Protestanten steht unsere Familie in der guten Tradition des 'Selber-Denkens'. Genau wie seinerzeit Martin Luther, tun wir uns dabei keineswegs leicht, wenn unser eigenes Gewissen in dem Zusammenhang mit der Obrigkeit kollidiert oder gegen geltendes Recht verstößt, wie in diesem Fall gegen die Schulpflicht. Wir sind ganz gewiss keine Querulanten und wir hadern mit uns und zweifeln.

Aber die Konsequenz kann dabei nie und nimmer sein, dass unsere Kinder mit der Macht des Stärkeren zu braven, unselbstständigen Duckmäusern und systemtreuen Konsumenten erzogen werden. Wir brauchen mehr denn je mündige und selbstständige junge Menschen, die mehr können, als Geld zu verdienen und wieder auszugeben.
Dem Schulsystem ist dabei kein Vorwurf zu machen. Jede Gesellschaft hat immer das Schulsystem, das sie benötigt. Zu Kaisers Zeiten wurden willige Soldaten gezüchtet, die ohne den Hauch eines Widerspruchs an die Front zogen. Diese Zeiten sind gottlob vorbei. Doch sind wir heute wirklich so viel weiter?

Werden in unseren Schulen nicht heute genau die Menschen aufgezogen, die unser selbstzerstörerisches marktwirtschaftliches System für sein ständig gepredigtes permanentes Wachstum braucht? Die ohne viel nachzudenken viel mehr Geld verdienen, als für ein gutes Leben nötig wäre, und viel mehr konsumieren, als gut ist für uns alle, nur damit sich das Rad der Wirtschaft immer schneller drehen kann?

Wir brauchen jetzt dringend genau diese Art Menschen, die friedlich aufbegehren. Die nicht einfach so weiter machen, nur weil es schon immer so war oder bequem ist oder weil es in einer Schulordnung steht. Sondern die kreative Ideen entwickeln, wie man Entscheidungsträger zu richtungsweisenden Taten bewegen kann. Das ist gelebte Demokratie! Und damit ganz im Sinne unseres großartigen Grundgesetzes, diesem Glücksfall für unser Land, für dessen Existenz ich Gott täglich danke und das zufällig am Tag meines Telefonats mit Herrn Boshof im Mai 70 Jahre alt wurde.

Von einem souveränen Direktorat erwarte ich, dass es den Geist dieser Verfassung an die nächste Generation weitervermittelt und deshalb die Schuldordnung mit dem nötigen Fingerspitzengefühl kreativ umzusetzen versteht, ohne sie dabei außer Kraft zu setzen oder zu verdrehen. So wie es zahlreiche andere Schulleitungen in Europa bereits eindrucksvoll vorgemacht haben, anstatt sofort, quasi aus der Hüfte mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Letzteres empfinde ich als befremdlich und fantasielos. Geht es um die Sache oder um die Schulordnung?

Natürlich entgegnete Herr Boshof, die Sache an sich, also die Demonstrationen für mehr und wirksamere Maßnahmen zum Klimaschutz, finde er in vollem Umfang unterstützenswert. Aus diesem Grunde habe er sich konstruktiv mit den Schülern zusammengesetzt und konkrete Maßnahmen für gesellschaftliches Engagement im Sinne der 'Fridays for Future' an der Schule erarbeitet. Doch während der Unterrichtszeit hat ein unabgesprochenes Engagement zu unterbleiben.

Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass diese Schüler-Demonstrationen nicht halb so wirkungsvoll wären, wenn sie nicht diese ungeheure Provokation des Schule-Schwänzens beinhalten würden. Dass die Schüler so ernst genommen werden und sich diese Bewegung weltweit so immens ausbreitet, wäre ohne diesen Aspekt niemals so schnell geschehen.

Ich bin aber nicht der einzige mit der Meinung, dass wir keine Zeit mehr haben. Wir können nicht darauf warten, bis die mächtigen Wirtschafts-Lobbyisten, auf die als einziges die Politik zu hören bereit ist, auch endlich einsehen, wovon letztlich das Überleben der Menschheit abhängen wird. Ich bin mit diesen jungen Menschen der absoluten Überzeugung, dass wir jetzt schnell handeln müssen, ansonsten wird es keine Zukunft geben, für die es noch irgendeinen Sinn macht, in die Schule zu gehen.

Es ist ja nicht allein der Klimawandel. Plastik in den Meeren und im hintersten Winkel der Erde. Ein Artensterben von gigantischem Ausmaß. Das Auslaugen der Ackerböden. Und ein sündhaft verschwenderischer Ressourcen-Verbrauch. All das hat zur Folge, dass in sehr wenigen Jahren zivilisatorische Katastrophen unermesslichen Ausmaßes auf uns zu kommen werden.

Und diese Katastrophen sind ja längt da. Noch gelingt es uns, sie aus Europa herauszuhalten, aber bereits jetzt ist der Preis für dieses Heraushalten, dass wir unsere Seele verkauft haben, weil wir dem Mittelmeer, libyschen Milizen und einem türkischen Autokraten die Drecksarbeit überlassen, damit wir Europäer unsere Hände weiter scheinheilig in Unschuld waschen können.

Diese jungen Menschen, und mit ihnen auch immer mehr Wissenschaftler und ältere Laien wie meine Wenigkeit, wollen doch nicht provozieren um der Provokation Willen. Nein, sie wollen etwas erreichen, nämlich schlicht und ergreifend das Überleben der Menschheit und die Bewahrung eines lebenswerten Lebensraumes. Um dies zu erreichen, müssen dringend und schleunigst zwei Dinge geschehen:

Erstens müssen die Politiker schnellstens dazu bewegt werden, auf diese jungen Menschen und vor allem endlich auf die Wissenschaft zu hören, die ja längst Lösungswege aufgezeigt hat. Spätestens seit dem Weckruf des Club of Rome im Jahre des Herrn 1972 (vor unvorstellbaren 47 Jahren!!!) kennen wir das Problem und wissen sogar um der möglichen Auswege, doch passiert ist seither das Gegenteil. Mit immer schnellerer, quasi exponentiell gesteigerter Geschwindigkeit rast unsere Gesellschaft unweigerlich auf die Wand zu in Form von immensen Verteilungskämpfen um die letzten verbliebenen Ressourcen und lebenswerten Landstriche dieses Planeten.

Zweitens muss ebenso schnell eine gesellschaftliche Bewusstseins-Änderung erreicht werden, denn jede und jeder einzelne von uns muss sich immer wieder fragen, ob der eigene Konsum, das Mobilitäts- und Reiseverhalten nicht grundlegend zu überdenken ist, und wir müssen dabei auch unbequeme Wahrheiten und persönliche Einschränkungen akzeptieren. Wir müssen endlich das große Prinzip der Freiheit umsetzen, nachdem unser Handeln auch nicht die Freiheit von anderen einschränken darf – auch nicht derjenigen, die nach uns kommen. Um die große Katastrophe zu verhindern, muss ein weltweites gesellschaftliches Umdenken stattfinden, weg von der Einstellung 'Was ich mir leisten kann, steht mir auch zu' hin zu einem fairen 'Was ich mir leiste, muss sich auch jeder andere leisten dürfen, ohne dass das Gesamtsystem Erde deshalb in Schieflage gerät'.

Und diese beiden für unser Überleben entscheidenden Punkte werden wir nur erreichen, wenn der reflexartige Verdrängungs-Mechanismus bei Politikern und in der gesamten Gesellschaft außer Kraft gesetzt wird – und dies wiederum kann nur gelingen, wenn Unerhörtes und Provokantes getan wird, wie eben diese Schulstreiks, die von der genialen schwedischen Greta Thunberg ganz klein und einsam begonnen und initiiert wurden. Davon bin ich auch nach dem angesprochenen Telefonat überzeugt. Das Gründen von Umwelt-AGs und das organisierte Sammeln von Plastikdeckeln ist, Entschuldigung, lächerlich und nichts weiter als die Beruhigung des Gewissens. Diese Maßnähmchen werden uns nicht vor der Katastrophe bewahren.

Was werden wir uns in zehn, 20 Jahren morgens im Bad in den Spiegel blickend sagen, wenn die Katastrophen und erbitterten Verteilungskämpfe uns erreicht haben werden? Wir, Eltern, Lehrer, Direktoren? Werden diejenigen, die anno 2019 auf rigorose Durchsetzung der Schulordnung gepocht haben, darauf stolz sein? Dass sie einen einvernehmlichen Konsens erreicht haben? Dass sie die Schülerinnen und Schüler im Zaum gehalten haben? Dass sie damit vielleicht die letzte Möglichkeit, wie diese Menschheit eine halbwegs lebenswerte Zukunft haben könnte, im Keim erstickt haben?

Was wäre im Gegensatz dazu, wenn wir alle diese friedliche Bewegung der Schülerinnen und Schüler selber in provozierender Weise unterstützen würden? Lasst uns mutig sein! Machen wir gemeinsam diese Bewegung zu etwas noch viel Mächtigerem! Seien wir kreativ und bauen wir diese Bewegung mit dem großen Potenzial, das da in unseren Heranwachsenden vorhanden ist, zu etwas aus, das so mächtig ist, dass es die Entscheidungsträger zum schnellen und richtigen Handeln bewegen kann! Wie würden wir uns dann in 20 Jahren beim Blick in den Spiegel fühlen? Und zwar völlig unabhängig davon, ob die großen Katastrophen tatsächlich verhindert werden konnten oder nicht."
Carsten Kühnel,
Pfaffenhofen

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