Im Grunde scheint es dem Angeklagten Sebastian Q. bei der Geiselnahme im Alten Rathaus in Ingolstadt wirklich nur um sein subjektives Gerechtigkeitsempfinden gegangen sein
(ty) Wäre die Geiselnahme im Alten Rathaus vor gutem einem Jahr vermeidbar gewesen? Diese Frage stellt sich in der Tat im Verlauf des Verfahrens gegen den Angeklagten Sebastian Q. Denn immer mehr verdichtet sich die Überzeugung: Ihm ging es eigentlich nur um Genugtuung, um Gerechtigkeit aus seiner Sicht. Denn er fühlte sich durch das ihm erteilte Hauverbot in den städtischen Rathäusern und das Hausverbot am Franziskanerwasser, wo er bis dahin genächtigt hatte, ungerecht behandelt.
Auslöser der Hausverbote war – wie berichtet – die sexuelle Belästigung, die Sebastian Q. einer Mitarbeiterin der Stadt gegenüber begangen haben soll. Die er selbst allerdings relativiert. Weil er – wie er sagt – sie lediglich gefragt habe, ob sie keine Angst habe, so leicht bekleidet im Franziskanerwasser aufzutauchen.
Welche Variante nun stimmt, seine oder die der Betroffenen, der zufolge er ihr ein eindeutiges Angebot gemacht habe, sei dahingestellt. Fakt ist: Sebastian Q. hat sich sehr genau überlegt, was er tat, als er am 19. August 2013 die vier Geiseln im Alten Rathaus von Ingolstadt nahm. Das bestätigte heute auch der sachverständige Landgerichtsarzt Roman Steinkirchner. Es sei kein spontaner Impuls gewesen, sondern sorgsam geplant. Sebastian Q. wollte – so der Sachverständige – niemandem etwas tun, sondern nur Genugtuung. Das heißt: Ein Entschuldigungsschreiben der Stadt. Um das Stalkingopfer T. S. sei es an diesem Tag gar nicht gegangen. „Ich habe nichts von der Frau gewollt“, soll er zum Sachverständigen einen Tag nach der Geiselnahme auf der Intensivstation des Klinikums gesagt haben. Das so genannte Gutachten von Steinkirchner war darüber hinaus indes wenig erhellend.
Differenzierter äußerte sich da schon der Beamte, der bei der Ingolstädter Polizei für Partnerschaftsdelikte zuständig ist. Er schilderte ausführlich die Inhalte der zahllosen SMS-Nachrichten, sprach von den eindeutigen Drohungen gegenüber dem Stalkingopfer und amüsanterweise auch von einer SMS, die er selbst vom Sebastian Q. bekommen hatte, und in der stand: „Ich liebe Dich.“ Das dürfte einen Polizisten zumindest im Dienst nicht allzu häufig passieren. Er schilderte auch nachvollziehbar die Stimmungsschwankungen des Angeklagten, sprach nachvollziehbar von den psychotischen Zügen, die bei ihm erkennbar wären.
Und das hat Sebastian Q. ja auch im Verlauf der Verhandlung hinreichend unter Beweis gestellt. Mitunter verfolgt er die Verhandlung ruhig mit Anflügen von deutlichem Humor, dann aber rastet er auch schon mal aus – wie am zweiten Verhandlungstag, als er dem Richter ein gepflegtes „Arschloch“ ins Stammbuch schrieb.
Was vom Tage übrig blieb, von dem Tag der Geiselnahme, das erzählten Michael Mißlbeck, der Sohn von Bürgermeister Mißlbeck, und der Lebensgefährte des Stalkingopfers T. S. eindringlich. Denn hinter der souveränen Fassade haben sich doch offensichtlich tiefe Traumata eingenistet. Nach außen hin habe Sepp Mißlbeck demnach gleich nach der Geiselnahme sehr lässig gewirkt, wie sein Sohn sagt. Zehn Tage später indes sei er mit dem Verdacht auf Herzinfarkt ins Krankenhaus gekommen. „Ganz so spurlos ist das an ihm nicht vorübergegangen.“
Und auch T. S. sei ein Jahr nach der Geiselnahme noch ziemlich mitgenommen. „Solange man sie nicht darauf anspricht, geht es ihr gut“, meinte ihr Lebensgefährte. Und das hatte ja auch ihre Zeugenaussage vor Gericht gezeigt. Schlafstörungen und Weinkrämpfe seien kurz nach der Geiselnahme jedenfalls an der Tagesordnung gewesen.
Wäre das alles nun vermeidbar gewesen? Wenn man das ins Kalkül zieht, was Sebastian Q.s Bewährungshelfer heute vor Gericht aussagte, könnte man fast den Eindruck gewinnen. „Er fühlte sich subjektiv ungerecht behandelt“, meinte der. Ihn hatte Sebastian Q. am Tag der Geiselnahme aus dem Rathaus angerufen, um ihm mitzuteilen, dass er „den mehr oder weniger ehrenhaften Beruf des Geiselnehmers“ angenommen habe. Und er solle sich doch bitte ins Rathaus bemühen. Den Hinweis seines Bewährungshelfers, er solle ihn doch bitte nicht duzen, kontere Sebastian Q. mit dem ihm eigenen Humor: „Einem Geiselnehmer schlägt man doch nichts ab.“
Der Bewährungshelfer empfand das Vorgehen der Stadt gegen den Angeklagten mitunter schon ein wenig „fragwürdig“. Zumal auf die Nachfrage von Sebastian Q., wo er denn nach dem Hausverbot nun schlafen solle, Sätze im Sozialamt gefallen sein sollen wie: „Sie könne ja unter der Brücke schlafen.“
Vielleicht hätte ein wenig Deeskalation, ein wenig gutwilliges Einlenken wirklich das Schlimmste verhindern können.