Die 37-jährige Nicole Roche lebt mit sechs Kindern in einer der Notunterkünfte am Ingolstädter Franziskanerwasser – Und sucht verzweifelt eine Wohnung
Von Michael Schmatloch
„Von Wand zu Wand sind es vier Schritte, von Tür zu Fenster sechseinhalb.“ So heißt es in einem Text des Liedermachers Reinhard Mey. „In Tyrannis“ ist der Titel des Songs. Das Tyrannis von Nicole Roche ist nicht ganz so geräumig. Seit September wohnt die 37-jährige Ingolstädterin nach der Trennung von ihrem Mann in einer der Notunterkünfte der Stadt am Franziskanerwasser. Auf 42 Quadratmetern. Mit sechs Kindern, die sie nicht einmal alleine zum spielen rauslassen kann. Denn im Nachbarblock wohl ein Pädophiler.
Unzählige Kinderschuhe vor der letzten Haustür im ersten Stock des Wohnblocks am Franziskanerwasser deuten darauf hin, dass wir uns auf der Zielgeraden befinden. Wir, das sind unsere Zeitung und Veronika Peters, die OB-Kandidatin der SPD. Sie ist im Rahmen ihrer Aufbauarbeit für eine Sozialgenossenschaft in Ingolstadt auf die Familie Roche aufmerksam geworden. Und ist einigermaßen entsetzt, als die Tür sich öffnet und wir unvermittelt in der Küche stehen. Den Flur, Garderobe, Küche und Esszimmer ist einer der drei winzigen Räume, die die 37-Jährige mit ihren sechs Kindern bewohnt. Die anderen beiden Zimmerchen sind Wohnzimmer und Schlafraum. Wir müssen uns absprechen, wer sich wohin stellt. Denn neun Personen in der so genannten Küche, das ist ein Gefühl wie in einem Schulbus zur Hauptverkehrszeit. Und zwischen den Beinen wuselt auch noch Fibi herum, die vier Jahre alte Jack-Russell-Hündin, für die ein paar neue Hosenbeine natürlich ein Fest sind. Denn viele Besucher erlebt Fibi hier sicher nicht.
Es ist wirklich irrsinnig eng in dieser Notunterkunft. Trotzdem ist alles an seinem Platz, macht die Wohnung einen sehr sauberen und organisierten Eindruck. Und die beengte Situation, in der sich Nicole Roche derzeit befindet, ist schon „komfortabel“ im Vergleich zu dem, was sie unmittelbar nach der Trennung von ihrem Mann durchmachen musste. Denn als sie zum ersten Mal als alleinerziehende, mittellose Mutter mit sechs Kindern beim Sozialamt vorstellig wurde, gab es für sie überhaupt keine Wohnung. „Ich habe eineinhalb Monate mit meinen Kindern in einem Wohnwagen gehaust. Der stand auf einem Bauernhof in Zuchering“, erzählt die verzweifelte Frau. Beim zweiten Versuch lief es dann ein wenig besser. Weil durch Zufall gerade etwas frei geworden war hier am Franziskanerwasser. Nun hat sie zumindest ein Dach über dem Kopf, wenn auch ein sehr sehr kleines. Mehr könne man ihr im Augenblick nicht bieten. Was wohl richtig ist. Denn Sozialwohnungen sind in Ingolstadt Mangelware. Zumindest klaffen Angebot und Nachfrage doch ein wenig auseinander.
Gerne ist sie in die kleine Wohnung nicht eingezogen, sagt sie. Denn man habe ihr natürlich gesagt, dass in der Nachbarschaft ein pädophil veranlagter Mann wohnt. Und die anderen Bewohner sind, gerade wenn man Kinder hat, auch nicht eben das, was man als ideale Nachbarn bezeichnen würde. „Ich lebe hier zwischen Drogenabhängigen, Alkoholikern und Kinderschändern“, erzählt Nicole, „meine Kinder werden ständig beschimpft. Wenn die mal draußen spielen wollen, heißt es gleich, sie sollen die ,Fresse’ halten.“
Alleine lässt Nicole Roche ihre Kinder ohnehin nicht ins Freie. Aus Angst. Seit Monaten bemüht sich die alleinerziehende Mutter verzweifelt, eine andere, größere Wohnung zu finden. Eine in einem besseren sozialen Umfeld. „Jeden Mittwoch und jeden Samstag durchforste ich die Immobilienanzeigen“, erzählt sie, „aber mich will ja keiner mit so vielen Kindern.“ Die Vermieter dächten immer, wenn man viele Kinder habe, dann sei man dreckig und die Kinder würden alles kaputt machen.
Da sie mit sechs Kindern – eigentlich hat sie acht, doch zwei sind bereits aus dem Haus – nicht arbeiten kann, lebt Nicole Roche von Hartz IV und dem Kindergeld, das ihr zusteht. Das sind zusammen rund 1600 Euro. Und sie hätte auch Anspruch auf ein Wohngeld von 1300 Euro Warmmiete. Aber das hilft ihr bei der Wohnungssuche auch nicht weiter.
Eigentlich sind die Sozialwohnungen am Franziskanerwasser nicht für Familien mit Kindern gedacht. Was anderes aber gibt es im Augenblick einfach nicht. Eine etwas größere Wohnung im Erdgeschoss ist gerade frei geworden. Doch die ist praktisch derzeit unbewohnbar. Weil es extrem unangenehm nach Ammoniak riecht, eine „Erinnerung“ an den Vormieter beziehungsweise dessen zwei Katzen. „Widerrechtlich“, wie ein städtischer Mitarbeiter betont , der zufällig gerade vor Ort ist. Denn Haustiere sind hier am Franziskanerwasser verboten.
Und das ist noch so eine Angst, die Nicole umtreibt. Denn mehrfach habe man sie schon aufgefordert, Fibi, die Jack-Russell-Hündin, zu entsorgen. Weil Tiere eben generell verboten seien. Und weil von Fibi eine „massive Gefahr“ ausgehe. Gefahr? Von diesem Tierchen, dass – kaum größer als Idefix – vor Freude über den unerwarteten Besuch so mächtig mit dem Schanz wedelt, dass es beinahe umzufallen droht?
Fibi ist das einzige, was den Kindern hier draußen noch Freude macht. Fibi ist ihnen ans Herz gewachsen. „Ich kann doch meinen Kindern nicht ihren Hund wegnehmen“, klagt Nicole, die sich beinahe ein wenig über sich selbst wundert, darüber, dass sie mit uns so offen redet.
„Ich habe mich nicht getraut, irgendwo hinzugehen und mich zu beklagen, weil ich Angst hatte, das Jugendamt nimmt mir die Kinder weg“, erzählt Nicole, „die Kinder sind doch alles, was mir geblieben ist.“ Sieben Monate ist der Jüngste. Und wenn der in den Kindergarten kommt, will sie sich „irgend etwas“ suchen, um wieder selbst Geld zu verdienen. Aber diesen Plan wird auch nur umsetzen können, wenn sie eine andere Wohnung hat. Denn hier kann sie ihre Kinder kaum alleine lassen. Nicht einmal für ein paar Stunden. Nicht mit diesem Nachbarn.
Veronika Peters ist einigermaßen ernüchtert, als wir die Wohnung von Nicole Roche wieder verlassen. Und wild entschlossen, Tod und Teufel rebellisch zu machen, um für die Frau mit ihren sechs Kindern eine Wohnung zu finden. Vielleicht über den Verein „Familien in Not“. Sie will es jedenfalls versuchen. Damit es vielleicht schon bald für Nicole Roche nicht mehr heißt: „Von Wand zu Wand sind es vier Schritte.“