Henry Okorafor hat es geschafft: Von Platz sechs ist er auf Position drei gerutscht und damit der erste schwarze Stadtrat Ingolstadts und auch Bayerns
Von Tobias Zell und Michael Schmatloch
Wer in den letzten Wochen durch Ingolstadt gefahren ist, der konnte den Eindruck gewinnen, da bewirbt sich doch tatsächlich ein Farbiger um das Amt des Oberbürgermeisters. Denn Henry Okorafor hatte die Stadt derart flächendeckend mit seinem Konterfei tapeziert, dass die Wahlplakate anderer politischer Akteure im wahrsten Sinn des Wortes blass aussahen. Und er hat es geschafft. Von Platz sechs auf der Liste der Grünen ist er auf Position drei vorgewählt worden.
Lange Zeit stand er am Wahlabend sogar auf Platz zwei. Vor Petra Kleine. Und den Grünen wurde buchstäblich schwarz vor Augen. So richtig amüsiert jedenfalls waren sie nicht über den Effekt, den sie indes hätten erahnen können. Denn Henry Okorafor stand nicht zum ersten Mal auf einer Wahlliste für den Stadtrat. 2008 – damals war er noch Mitglied er SPD – hatte er sich schon einmal um ein Stadtratsmandat beworben. Und war sage und schreibe 15 Plätze nach vorn gewählt worden. Gereicht hatte es damals indes nicht ganz. Dieses Mal schon.
Und so zieht erstmal ein echter Schwarzer in den Stadtrat ein. Und ist mit manch einem Schwarzen im übertragenen Sinn gut befreundet. Zum Beispiel mit Hans Süßbauer.
Schwarze unter sich: Henry Okorafor und Hans Süßbauer
Geboren und aufgewachsen ist Henry Okorafor in Nigeria. Vor 20 Jahren kam er nach Deutschland. Der 45-Jährige hat in Eichstätt studiert und gelebt, sich politisch zunächst bei der SPD engagiert, bis ihn nach dem Umzug auf die Schanz und nach einer Stadtratskandidatur eine gewisse Enttäuschung und die Erkenntnis, dass er woanders besser aufgehoben ist, zu den Grünen führte.
Sein zum Tode verurteilter Bruder saß 17 Jahre lang unschuldig in einem nigerianischen Gefängnis. Doch eine von Henry Okorafor ins Leben gerufene Initiative, die in Ingolstadt ihren Anfang nahm, fand in der Freilassung von Patrick ihr Happy End. Henry Okorafor ist einer von Hunderten Ingolstädter Stadtratskandidaten, aber seine Lebensgeschichte ist spannend wie kaum eine andere.
Er ist der Mann, der am dritten Wochentag geboren ist. Genau das bedeutet Okorafor in der Sprache des nigerianischen Stammes der Ibo, für den die Woche nur vier Tage zählt. Geboren ist Henry Okorafor in Owerri, der rund 700 000 Einwohner zählenden Hauptstadt von Imo, einer Art Bundesland im Südosten Nigerias. Er machte das Abitur und studierte Politikwissenschaft an der Universität Jos, ehe der nach Deutschland kam. Kontakte hierher bestanden über seinen Vater, ein Staatssekretär, der in Berlin schon 1961 die nigerianisch-deutsche Freundschafts-Gesellschaft gegründet hatte. Kardinal Wetter, Münchner Erzbischof, bot Henry Okorafor damals ein Stipendium an. So verschlug es ihn an die Katholische Uni Eichstätt, wo er sich der Politikwissenschaft und Philosophie sowie der Neuen und Neusten Geschichte widmete.
1999, nach dem Magister mit Schwerpunkt Internationale Beziehungen, machte Okorafor sich als Dolmetscher und Übersetzer selbstständig. Er arbeitet für Unternehmen, Gerichte, den Zoll, das Landeskriminalamt und Justizbehörden. Zudem ist er bei Audi beschäftigt. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne im Alter von elf und 15 Jahren. Seine Frau Karin (41) ist Grundschullehrerin und kandidiert auf Platz 30 der Grünen-Stadtratsliste. Familiär wie politisch ist also alles im grünen Bereich.
In Deutschland fand Henry Okorafor aber zunächst bei der SPD eine politische Heimat. „Das Thema Gerechtigkeit und die Werte, die ich dort vorfand, das hat gepasst.“ Er engagierte sich also für die Eichstätter Sozialdemokraten, gründete eine Juso-Hochschulgruppe, war im Wahlkampf aktiv und saß im Ortsvorstand. Als er vor zehn Jahren nach Oberhaunstadt zog, trat er dort in den SPD-Ortsverein ein. 2008 kandidierte er für den Ingolstädter Stadtrat, doch die Chancen auf den Einzug waren denkbar gering. „Ich war sehr enttäuscht über Listenplatz 39“, räumt er ein. Immerhin wurde er 15 Plätze vorgewählt – einen größeren Sprung machte nur Manfred Schuhmann.
Doch das war für Okorafor ein schwacher Trost. „Ich wurde nicht ernst genommen, hatte keine Chance, meine Themen und Ideen einzubringen, obwohl ich sehr aktiv war“, beklagt er. Die Enttäuschung darüber „und auch der Eindruck, dass das Programm besser zu mir und meinen Einstellungen und Überzeugungen passt“, führten ihn dann zu den Grünen, wo es nun mit dem Einzug ins Ratsgremium gelingen soll.
Für Politik hat sich Okorafor immer schon interessiert. Nach dem Studium wollte er eigentlich nach Nigeria zurückkehren, um dort Politiker zu werden. Eine Karriere im diplomatischen Dienst seines Heimatlandes sei sein Traum gewesen. Doch der zerplatzte jäh, als 1995 sein Bruder Patrick im Alter von 14 Jahren verhaftet wurde. Der Vorwurf lautete zunächst auf Entführung, dann auf Raubüberfall. Henry Okorafor erzählt die unglaubliche Geschichte dahinter. „Alles fingierte Anschuldigungen“, sagt er und vermutet eine schreckliche Intrige. Der Vater, Staatssekretär und einflussreich, wurde damals als Botschafter gehandelt. Um das zu verhindern, sei der damaligen Militärregierung offenbar jedes Mittel recht gewesen. Das ging soweit, dass der 14-Jährige neben sechs weiteren Beschuldigten zum Tode verurteilt wurde. Bis auf Patrick wurden alle hingerichtet, erzählt Henry Okorafor.
Insgesamt 17 Jahre saß sein Bruder im Gefängnis. Auf Wunsch des Vaters habe er 14 Jahre lang nichts unternommen, erzählt Henry. „Er hat gesagt, ich solle nichts tun, denn mein Bruder ist unschuldig und wird frei kommen.“ Doch dann hielt Henry Okorafor das Stillhalten nicht mehr aus. Er wandte sich an Amnesty International, machte den Fall öffentlich und startete von Ingolstadt aus eine Kampagne, die weltweit Beachtung fand. Der hiesige Bundestagsabgeordnete Reinhard Brandl (CSU) habe sich eingeschaltet, dann auch Außenminister Guido Westerwelle (FDP). „Schließlich unterzeichneten alle in Nigeria tätigen EU-Botschafter einen Brief und forderten die Freilassung meines Bruders.“ Einige Monate später geschah, woran manche nicht mehr geglaubt hatten: Patrick kam frei. „Ich kann mich gar nicht genug bei den Ingolstädtern bedanken, die damals die Petition von Amnesty International unterschrieben und damit alles ins Rollen gebracht haben“, sagt Henry Okorafor.
Sein Bruder ist nun ein freier Mann, lebt in Nigeria und will seine Allgemeine Hochschulreife machen. Henry kämpft derweil auf der Schanz für Integration, Toleranz und ein lebenswertes Ingolstadt. In der Kommunalpolitik ist er längst angekommen. „Das Hauptproblem ist, dass Politik für Migranten, aber nicht mit ihnen gemacht wird“, sagt er, „sie werden nicht beteiligt.“ Das Defizit zeige sich nicht zuletzt im Stadtrat: In Ingolstadt haben 40 Prozent der Menschen Migrationshintergrund, im Stadtrat treffe das gerade einmal auf zwei der 50 Mitglieder zu. Okorafor will nicht leugnen, dass die Stadt Angebote für Migranten macht. „Aber da muss viel mehr getan werden, vor allem für Kinder, deren Eltern nicht die Möglichkeiten oder das Geld haben.“ Integration könne nur durch Bildung gelingen, betont er. Das fange schon bei der Sprachförderung an. „Das wirksamste Mittel gegen Armut und soziale Ausgrenzung ist Bildung und Sprache.“ Zu häufig entscheide die soziale Herkunft eines Kindes – nicht nur bei Migranten – über schulischen und beruflichen Erfolg. Diese enge Bindung müsse aufgebrochen werden, besonders dort, wo nicht das Talent oder die Leistung, sondern die Herkunft zur Barriere gemacht werde.
Der 45-Jährige, der übrigens nur einen deutschen Pass hat, fordert mehr Beschäftigte mit Migrationshintergrund in der Stadtverwaltung. Zuwanderer müssten auch politisch stärker beteiligt werden. Von Quoten hält er nichts, aber im Sinne einer Selbstverpflichtung würde er es begrüßen, wenn jede Partei einen Kandidaten mit Migrationshintergrund auf einem aussichtsreichen Listenplatz für den Stadtrat nominieren würde.
Doch bei allem Einsatz, auch als Sprecher des Arbeitskreises „Migration, Flucht und Menschenrechte“ und für Amnesty International – Henry Okorafor liegt es sehr am Herzen, dass sein politisches Engagement nicht nur auf diese Themenfelder beschränkt wahrgenommen wird. „Ich will ein Stadtrat für alle Ingolstädter sein.“ Möchte helfen, die Stadt lebenswerter zu machen, die Innenstadt zu gestalten, die Arbeitsplätze zu erhalten. „Beim Klimaschutz muss die Stadt bei den eigenen Gebäuden mit gutem Beispiel vorangehen“, fordert er. Bei der Energiewende redet er dezentralen Konzepten das Wort, das Angebot von Ganztagsschulen würde er ausbauen. Steigende Mieten seien die Kehrseite der Attraktivität Ingolstadts, betont er, die Kommunalpolitik müsse helfen, dass Wohnraum bezahlbar bleibt. „Und die Politik muss dafür sorgen, dass soziale Gerechtigkeit und sozialer Frieden in unserer Stadt auch in Zukunft erhalten bleiben.“
„Ich mag es, Leute kennen zu lernen und mich auszutauschen“, sagt er. Das sei ihm, neben ein bisschen Fitness und Tischtennis, das liebste Hobby. In den letzten Wochen aber galt seine volle Aufmerksamkeit dem Wahlkampf. In ganz Bayern, sagt er, gibt es seines Wissens noch keinen schwarzen Stadtrat. Das hat er jetzt höchst persönlich geändert. Wie sagte er uns doch so schön vor der Wahl: „Ich will der erste schwarze Stadtrat werden.“