Warum der mutmaßliche „Rentnermörder“ Heinz Josef M. von Tag zu Tag „netter“ wird
Von Michael Schmatloch
Wie kann man einen so netten Menschen überhaupt anklagen? Diese Frage stellt sich allmählich, wenn man den so genannten Rentnermord-Prozess am Landgericht Ingolstadt verfolgt. Heute am fünften Tag der Verhandlung war der Angeklagte Heinz Josef M. sichtlich gelöst, ja bestens aufgelegt wie es schien. Kein Wunder, denn so viele Komplimente bekommt man ja auch selten zu hören. Wie mehrfach berichtet wird er beschuldigt, am 13. August vergangenen Jahres den Rentner Helmut P. in dessen Wohnung in der Hollarstraße mit einer Limoflasche brutal auf dem Kopf geschlagen und anschließend erwürgt zu haben.
Die Diskrepanz bei Zuschauern und professionellen Beobachtern des Verfahrens wird immer größer. Denn auf der einen Seite steht da ein gefühltes „Er war es“ im Raum. Auf der anderen Seite fehlt jeder stichhaltige Beweis. Und die Zeugen, die befragt werden, sind sich in einem Punkt einig: er ist ein netter Mensch.
Das bestätigten einhellig drei Zeugen Jehovas, die ihm im Juli in Ingolstadt angesprochen haben und mit ihm „über die Liebe“ gesprochen haben. Über die göttliche wohlgemerkt. Und die haben sie an ihm auch gleich praktiziert. Denn eine der Zeuginnen ließ ihn in ihrer Wohnung übernachten und duschen, bekochte ihn zwei Tage lang und gab ihm schließlich noch rund 200 Euro. Für den Rückflug nach Teneriffa. Die Frage des Richters nach seinem damaligen Aussehen beantwortete sie denn auch mit der Bemerkung: „Nicht so gut wie jetzt“. Da konnte sich selbst Heinz Josef M. eines Lächelns nicht erwehren. Zumal ihn die zweite Zeugin Jehovas in ihrer Aussage als „ehrlich und lieblich“ apostrophierte.
Heinz Josef M. ist wohl das geborene Opfer. Jemand, der Mitleid provoziert, der nicht um Geld betteln muss. Er bekommt es einfach zugesteckt. Denn auch das hat der bisherige Prozessverlauf gezeigt: Er hat nie jemanden um Geld angehauen, obwohl er absolut pleite war. Man hat es ihm einfach gegeben.
Auch ein Ingolstädter Landwirt, bei dem er im vergangenen Jahr Rüben gehackt hat, gab ihm – ohne ihn vorher zu kennen – gleich mal einen Vorschuss. Und eine Kosmetikerin, der er bei der Renovierung der Wohnung geholfen hat, fand ihn freundlich und nett. Er habe alle Attribute verdient, die man einem netten Menschen eben zugesteht.
Für absolut niemanden hat er den Eindruck gemacht, in dieser Haut könnte ein potenzieller Mörder stecken. „Und auch heute traue ich ihm diese Tat nicht zu“, meinte eine ältere Dame, die Heinz Josef M. nach ihrer Aussage gleich noch „alles Gute“ wünschte.
Und die „schönen Geschichten“, die er erzählt hat, wie eine andere Zeugin bemerkte, scheinen alle wahr zu sein. Zigfach wurde die Schilderung seines gestohlenen Gepäcks inzwischen bestätigt, seine Freundin auf Teneriffa ist, wie sich durch die Verlesung ihrer Aussage in Spanien herausstellte, ebenfalls überaus real. Die deutlich jüngere Frau bestätigte eine Liebesbeziehung zu ihm ebenso wie sie den Zeitraum seiner Absenz von der Insel präzisierte. Demnach ist Heinz Josef M. seit März in Deutschland unterwegs. Unter anderem, um seine Ansprüche auf eine Betriebsrente von Audi geltend zu machen. Auch habe sie ihm, wie Heinz Josef M. ja vielen Zeugen erzählt hatte, mehrfach Geld nach Ingolstadt überwiesen.
Die Frage, die sich allmählich wirklich stellt: Warum hat einer, der das Potenzial in sich trägt, einen alten, 45 Kilogramm schweren und 157 Zentimeter großen Mann eiskalt zu erwürgen, nicht schon früher seine kriminelle Energie eingesetzt, um seine chronische Geldknappheit zu beenden. Heinz Josef M. war während seines Aufenthaltes in Ingolstadt – das belegen sämtliche Zeugenaussagen des heutigen Verhandlungstages – im Grunde immer nur auf der Suche nach einer Unterkunft und nach Arbeit. Und er verwandelt sich auf der Anklagebank von Verhandlungstag zu Verhandlungstag mehr vom verhassten Totschläger zum beinahe bemitleidenswerten Unterprivilegierten.
Klar, die Indizien sprechen weiter gegen ihn, wenn auch nicht mit der erdrückenden Beweislast, die eine Verurteilung wegen Totschlags rechtfertigen würden. Auf der anderen Seite wird er in den Schilderungen der Zeugen zunehmend friedvoller und gutmütiger. „Ehrlich und lieblich“, wie es im Jargon der aussagenden Zeugin Jehovas hieß. Gefühlsmäßig ist Heinz Josef M. der, der den Rentner Helmut P. erwürgt hat. Aber dieses Gefühl muss sich der wohlwollenden Zeugenaussagen buchstäblich erwehren.
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